Die Stiefmütter
von Rainer Juriatti
Stiefmütter sind nicht umzubringen. So könnte ich behaupten. Denn das Gegenteil ist der Fall: Stiefmütter vermehren sich unermesslich. Inzwischen haben sie die Reise rund ums Haus angetreten.
In Die Abwesenheit des Glücks – der Erzählung eines Vaters, der sich eines Tages in den Garten setzt, um seinem Sohn einen Brief zu schreiben, in dem er ihm dessen Leben erzählt, ohne dass der Sohn je gelebt hätte – sind sie beschrieben: die Stiefmütterchen unter Pablos Baum.
Die Stiefmütterchen (…) „haben von deiner Mutter ihren Platz zugewiesen bekommen, umkränzten deinen Apfelbaum (…). Gleich daneben haben wir Hochbeete angelegt, und als Verächter der zeitraubenden Sinnlosigkeit des Rasenmähens umsäumte ich die Beete großzügig mit Gartenvlies, setzte Randsteine und füllte die Fläche mit Rindendekor. Prompt hielten sich die Stiefmütterchen unter deinem Baum nicht an den ihnen zugewiesenen Platz. Während ich hier sitze und dem einsetzenden Gewitter zusehe, blicke ich auf eine Rindendekorfläche, die übersät ist mit wilden Stiefmütterchen, des späten Sommers wegen inzwischen etwas abgeblüht. Alles ist bedeckt mit weißen und violetten Blüten. Wollen wir heute an eines der Hochbeete treten, so müssen wir uns einen Weg bahnen durch all die kleinen Blumenbüschel.“
Und heute fiel es mir auf, als ich auf dem Vorplatz stand. Ein paar Stiefmütterchen haben sich auf den langen Weg vom hinteren Teil des Gartens bis ganz nach vorne auf den Vorplatz gemacht, "überwanden" sogar zwei Hausecken, um sich am entgegengesetzten Ende des Grundstücks in den Ritzen der Pflastersteine niederzulassen. Auf der anderen Seite des Platzes stehen sie längst schon, ein riesiges Feld hat sich dort gebildet und auch die Beete der Sanddornbüsche für sich beansprucht. Ich liebe diese Pflanze, die für mich seit vielen Jahren nun schon für die Unbändigkeit, Unangepasstheit und Revolution gegen Schubladisierung steht, da sie sich an gar nichts, wirklich gar nichts hält:
„Die Stiefmütterchen erinnern mich daran, dass das Leben nicht aufzuhalten ist, dass sich das Leben immer durchsetzt und wir vielleicht einen Impuls geben können, niemals aber können wir es regulieren. Es hält sich nicht an die von uns vorgesehenen Bahnen, es hält sich nicht an den vorgesehenen Platz. Das Leben nimmt sich, was es braucht – und es bahnt sich seinen Weg, wenn es sein soll. (…) Ebenso mag es mit unserer gemeinsamen Geschichte sein. Deine Mutter und ich, wir haben euch allen einen Platz ermöglicht. Genommen habt ihr ihn euch selbst.“
Gestern wäre unser Sohn 27 Jahre alt geworden.
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