Ich zähle alle, denn alle zählen
von Vera Juriatti
Mit den ersten Sternenkindern in den frühen Neunzigerjahren hat sich alles verändert. Meine Einstellung zur Vorfreude, meine Haltung zur Geburt, meine Skepsis und zugleich hohe Achtung vor dem Leben.
Viele Jahre lebten wir zwischen Bangen und Hoffen, oftmals konfrontiert mit den schlimmsten Stunden, dem „zur Welt sterben“ eines Kindes. Nach den Geburten eines gesunden Sohnes und einer gesunden Tochter begleiteten uns schließlich auch fünf Sternchen. Sie gehörten zu uns, so, wie die lebenden Kinder zu uns gehörten. Allerdings verstand das unser soziales Umfeld nicht. Unsere verstorbenen Kinder wurden ignoriert. Sprachen wir darüber, wurden wir abmoderiert. Wir hatten zu schweigen, das verstanden wir sehr rasch.
Zu dieser Zeit begann ich, mich als Krankenschwester dafür stark zu machen, einen besseren Umgang zu pflegen mit all den Frauen, die eine stille Geburt zu verkraften haben. Doch auch im Beruf stieß ich auf Unverständnis. Ich hatte oft den Eindruck, meine Kolleginnen meinten, ich mache mich wichtig. Und da sie ihre Haltung nicht veränderten, veränderte sich auch nichts. Als ich berufliche Wechsel durchlief, blieben all die Sternenkinder stets bei mir. Ich könnte heute sagen: Ich habe das Bedürfnis, es müsse sich etwas ändern, mit mir genommen.
Zwanzig Jahre nach unseren eigenen Erfahrungen der Isolation, der Einsamkeit, des Schweigens und der inneren Verzweiflung veröffentlichte mein Mann die Erzählung „Die Abwesenheit des Glücks“. Er meinte damals, es habe all diese Jahre gebraucht, um sich innerlich von seinen Verzweiflungen zu lösen, um tatsächlich etwas darüber sagen zu können. Bald darauf waren wir in vielen Orten in Österreich zu Gast, um Lesungen abzuhalten und mit Menschen über das Thema zu sprechen. Und so führte das eine zum anderen: Viele Mütter erzählten mir von Geschwisterkindern, für die es wenig Lese- und Erzählstoff gebe. Und da ich selbst nichts fand, das meine Erfahrungen und meinen Blick auf unsere Kinder, die mit ihren verstorbenen Geschwistern aufgewachsen waren, annähernd realistisch wiedergab, schrieb ich die Vorlese-Geschichte „Leon & Louis oder: Die Reise zu den Sternen“. Ich habe mich bemüht, einen Text zu verfassen, der sich mit der jeweils eigenen Geschichte der lesenden Familie füllen lässt.
Auf unserem Schrank im Wohnzimmer stand in all diesen Jahren die Kopie einer Polaroid-Aufnahme unseres Sohnes Pablo, der in der 25. Schwangerschaftswoche zur Welt starb. Dieses Bild ist von großer Bedeutung für uns, steht als „Begleiter“ stellvertretend für alle unsere Sternchen. Auch unsere lebenden Kinder sind mit diesem Bild aufgewachsen, vollkommen selbstverständlich. Auf einer unserer Lesereisen trafen wir auf einen Sternenkindfotografen. Da wir beruflich seit 30 Jahren fotografieren, lag es nahe, seiner Einladung nachzukommen und so sind wir inzwischen als ehrenamtliche Fotografen unterwegs. Für akut betroffene Eltern ist die Erfahrung der „Würdigung“ ihres verstorbenen Kindes durch „externe“ Fotografen von enorm tröstender Bedeutung.
Meine eigene Not, meine eigene Verzweiflung und Trauer schrieen vor mehr als 25 Jahren nach rascher Veränderung. Dauerhaft aber ist nur, was sich langsam, dafür zäh und konsequent vollzieht. Ich sehe das oft wie jene winzigen Wellen, die eine Windböe verursacht. Die winzigen Wellen sind sofort wieder verschwunden. Darunter aber liegt die Tide des Meeres: die größte aller Wellen. Sie wird kaum bemerkt, bringt aber das Große Ganze in Bewegung. So kommt es mir manchmal vor: Viele Engagierte bringen das Große in Bewegung. Und wann immer ich Gelegenheit dazu habe, erzähle ich von meinen Kindern. „Ich zähle sie alle“, sage ich dann, „weil alle zählen“.
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