2. November 2021 - 13 Kommentare

Der kurze Weg des Jonas Fabian

Der kurze Weg des Jonas Fabian
von Christine Ehrlich

Da war er. Jonas Fabian. Wir durften ihn fotografieren. Und dann erreichte uns ein Text. Ein markerschütternder. Christine meinte, wir sollen ihn veröffentlichen. Damit die Welt weiß: Sie fühlen. Unsere Kinder sind da und sie fühlen. Hier ihr Text:

Ich liege hier in einem Untersuchungszimmer auf der Liege. Davor habe ich den Raum für mich hergerichtet. Ich hatte eine Kerze dabei und ein Foto. Darauf zu sehen sind ich mit meinem Babybauch und meine zwei Männer, mein Mann und mein Sohn, die den Bauch gerade küssen. Ich sehe sie dabei liebevoll an. Mit meinen Affirmationen im Kopf, die ich mir eigens für diesen Eingriff erarbeitet habe, liege ich hier, wissend, was passieren wird. Für diesen Eingriff habe ich mir den Arzt gewählt, bei dem ich ganz intuitiv still werde, mich entspannen kann, dem ich vertrauen kann. Trotzdem ist es eine absurde Situation. Mein Mann und ich sind hier, um unser Kind töten zu lassen. Wir kommen sogar freiwillig. Von außen kaum zu verstehen, wenn man die Geschichte – den Weg, der davor liegt, nicht kennt. 

Der Arzt ist sich bewusst, was er gleich tun wird. Er ist fokussiert und richtet für sich seinen Rahmen ein. Auch er braucht seinen Arbeitsplatz und seinen Schutz. Das macht die ganze Situation wieder echt, authentisch. Keine emotionskalte Fließbandarbeit … NEIN, hier geht es um ein Menschenleben – und das wird durch ihn beendet. 

Unser Kind hat eine gravierende Form der Glasknochenkrankheit. Ein Gendefekt, der hier in einer Schwere auftritt, die es unserem Kind unmöglich macht, außerhalb meines Körpers zu leben. Die Knochen viel zu weich, der Brustkorb zu eng, Deformierungen an Rippen und Armen und Beinen. Das kurze Leben wäre geprägt von Knochenbrüchen schon in meinem Körper, multiplen Knochenbrüchen während des Kaiserschnitts und einem Lungenversagen ab dem Zeitpunkt des ersten Atemzugs. Was sonst noch dazukommt, können und wollen wir uns gar nicht weiter erdenken. Alleine diese Vorstellungen reichen uns schon, hat uns zum Entschluss kommen lassen, dass es das Beste für ihn sein wird. Die Bilder, die in unseren Köpfen bereits da sind, reichen aus: Ein kurzer Druck mit dem Schallkopf auf den Schädel unseres Sohnes und er verformt sich. Zuviel Druck auf einen Arm und er bricht. Und das durch meinen Körper hindurch. Wie könnte ich ihn schützen, wenn sein Bauplan so durcheinander gekommen ist? 

Dann der Stich. Er geht ins Herz, denn die Nabelschnur ist in der Lage, in der sich Jonas Fabian befindet, nicht zu erreichen. Mein Kind hüpft in meinem Bauch, ich spüre es, doch ich beruhige ihn. „Gleich ist es vorbei“, sage ich ihm und mir. Habe ich das gerade wirklich gemacht? Ist das mein Ernst? Ich überprüfe meine Gedanken, gehe alles nochmals durch und höre wieder den Satz in meinem Kopf: „Gefühle von Schuld oder Ablehnung haben keine Chance sich in meine Gedanken einzuschleichen, denn durch meine bewusste Entscheidungsfindung stehe ich hinter diesem Vorgang“. Ja, die Entscheidungsfindung war lang und intensiv. Es gibt keinen Happy-End-Plan-B. Ich atme weiter entspannt ein und aus. Dann spüre ich Stille und sage: „Jetzt spüre ich nichts mehr“. „Genau“, sagt der Arzt, „es ist vorbei“. Alle Anwesenden sind leise, ich darf mir Zeit nehmen. Mein Mann sitzt nach wie vor an meiner Kopfseite. Wir sind gewahr, was gerade passiert ist, doch gleichzeitig wirkt es wie ein Traum – wie Einbildung. Es folgen Tränen, Berührungen. Ich brauche nochmals meine Affirmationen, damit ich meinen Fokus halte, meine Absicht dahinter erfasse und meine Liebe zu meinem Kind und zu mir spüren kann. Mein Mann und ich liegen auf der Liege und halten uns. Halten uns, bis wir die Kraft haben nach Hause zu fahren und unsere Trauer zu fühlen; den Prozess, der schon vor vielen Wochen kleinweise begonnen hat, zu fühlen und zu leben. 

Ich habe ganze fünf Tage, um Abschied zu nehmen und mich auf die stille Geburt vorzubereiten. Durch die Gespräche mit meinen betreuenden Ärzten haben wir eine Vorgehensweise gefunden, die für sie als Ärzte und mich als trauernde Mutter sicher und sinnvoll ist. Doch ich brauche sogar nur drei Tage. Schon in der Nacht auf den dritten Tag spüre ich: „Es ist soweit. Ich bin bereit für die Geburt meines toten Kindes“.

Ein letztes Bad mit vielen Kerzen, in der Dunkelheit und mit einem wunderbaren Lied - liebevoll von meinem Mann vorbereitet. Ich kann viel weinen, negative Gedanken und Schuldgefühle loslassen. Weine um mein Kind, um mich, um alle Frauen, die ihre Kinder verloren haben. Ich weine, bis ich fertig bin. Dann die Klarheit - jetzt kann ich in die Klinik fahren.

Die Einleitung ist gut zu handeln. Mit HypnoBirthing bin ich gut vorbereitet auf die Geburt meines Sohnes, auf meine Geburt als Mutter eines Sternenkindes in der 23. Schwangerschaftswoche. Nach Einnahme der zweiten Tablette kommen die Wellen sehr schnell und intensiv, minütlich für fast vier Stunden. Diese Intensität und Schnelligkeit brauchen viel Aufmerksamkeit und Fokus von mir. Mal überfordert es mich, macht mich wütend, mal bin ich froh, dass meine Gedankenwelt kaum Zeit hat, um mit mir in Kontakt zu treten. Ich bin bei meinem Körper, die Außenwelt sehr weit weg. Doch ich fühle mich nicht allein, ganz im Gegenteil. Ich spüre Halt, Liebe und eine Kraft, die mich wachsen lässt. Jeder Kontakt ins Außen bringt mich weg vom Spüren, vom Öffnen, dann kommt wieder die Wut.

Und plötzlich wird es ganz still – eine gefühlte Ewigkeit nach so vielen Stunden des Weit werdens. Ich warte, rufe meinen Mann zu mir in die Dusche. Ich spüre die Beine meines Sohnes. Mein Körper schiebt mit einer Leichtigkeit, mit einer Ruhe, fast friedlich. Komplette Entspannung fließt durch meinen Körper und bringt den Satz: „Jetzt ist es soweit. Halte deine Hände auf“. Mein Mann, Jonas Fabian und ich. Nur wir drei. So ein inniger Moment. Es scheint, als würde für einen Augenblick die Erde still stehen. Ich atme tief durch und bin voller Dankbarkeit und Liebe. Es ist geschafft. Mein Mann erwartet ihn mit seinen Händen, gibt ihm den Halt, den ihm sein eigener Körper nicht geben kann. Sein Leidens- und Lebensweg sind hiermit abgeschlossen. Es ist Sonntag, der 3. Oktober 2021.

Als er geboren ist, kommen die Gefühle und das Gewahr werden seiner Erkrankung; wir können es be-greifen. Ich trete wieder ins Außen. Mein Gott bin ich müde – und erleichtert!

Bereits 45 Minuten nach der Geburt kommen die Sternenfotografen. Ein Ehepaar, das sich dem Thema Sternenkinder leidenschaftlich angenommen hat und für Österreich viel vorantreibt. Sie bringen Wertschätzung, Mitgefühl, Liebe und eine Klarheit mit sich, die mich sofort entspannen lassen. Ich spüre ihre Anteilnahme im Gespräch, sie wollen authentische Begegnungen… so wie ich. Behutsam nähern sie sich Jonas, ziehen ihn an. Jedes Foto braucht eine spezielle Energie.  Für uns – als Erinnerung. Es sollen Erinnerungen sein, die uns Liebe ins Herz zaubern. Sie erfüllen diese ehrenamtliche Aufgabe mit einer Professionalität und Hingabe, wie ich sie selten erlebt habe.

Mich erfüllen so viele Gefühle auf einmal: Liebe, Dankbarkeit, Erschöpfung, Trauer. Danke Jonas Fabian. Danke für die fünf Monate, die du mir und uns als Familie geschenkt hast.

Jonas Fabian
Gestorben am 29.9.2021 (Fetozid)
Geboren am 3.10.2021 (Stille Geburt)
Eltern: Christine und Daniel
Bruder: Leonidas

Der Beitrag von Christine erschien inzwischen auch auf Dein-Sternenkind.eu sowie auf Stadt-Land-Mama.

(Ich bitte um Kommentare hier auf dieser Blog-Seite: Leserinnen und Leser wenden sich damit direkt an Christine und Daniel. Danke!)

Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text

Kommentare

Hannah
2. November 2021 um 19:36

So berührend, so eine starke Familie! Alles erdenklich Gute und viel Energie weiterhin. Und danke für das Teilen dieses Erlebnisses.

Sandra
2. November 2021 um 19:49

Was für ein unglaublich berührender Text. Danke fürs Teilen Ihrer Geschichte. Ihnen und Ihrer Familie nur das Allerbeste.

Beate
2. November 2021 um 19:50

Den Mut und die Kraft den Ihr bewiesen habt,wünsche ich euch Allen für Euer ganzes Leben.
Ich habe Tränen in den Augen.
Alles Liebe und Gute

Martina
2. November 2021 um 20:36

Einfach ein Danke. Für die Zeilen, für die Offenheit. Für den Mut.

11 Jahre wäre unser Maximilian heute.
Auch er getötet in mir, 27 SW – was für ein Wort – Fetozid – Ermordung? Erlösung?
Viele Fragen über Jahre hinweg!
Und eines bleibt: es ist alles anders.
Am meisten ich selbst.

Birgit Burtscher-Jernei
2. November 2021 um 20:43

Liebe Eltern, lieber Bruder des kleinen Jonas Fabian! Ich bin tief berührt von diesen Zeilen.
Es ist ergreifend, wie liebevoll und zärtlich sie diesen so traurigen Weg gegangen sind.

Ich wünsche Ihnen viel Kraft und alles erdenklich Gute!

Rainer Juriatti
2. November 2021 um 20:45

Liebe Martina! Ein Gedicht, Ihr Text. Man kann es – anders ausgedrückt – nicht dichter sagen. Was bleibt, sind wir: verändert.

Beatrix
2. November 2021 um 21:10

Ich bin zu Tränen gerührt. Ich darf soviel Gefühle wahrnehmen, vor allem unendliche Liebe spüren. Vielen lieben Dank an euch, dass ich an eurem Schmerz, an eurer Hoffnung mitfühlen darf.
Alles Liebe
Beatrix

Anita O.
2. November 2021 um 21:41

Liebe Christine, lieber Daniel, lieber Leonidas.

Meine aufrichtige Anteilnahme zum Verlust eures Jonas Fabian. Gleichzeitig möchte ich zum Ausdruck bringen, welch große Liebe und Achtsamkeit aus und zwischen Ihren Zeilen für mich spürbar geworden sind. Ich wünsche Ihnen für die kommende Zeit möglichst viele Menschen an Ihrer Seite, die Ihnen dreien gut tun und Sie in Ihren Bedürfnissen anerkennen und abholen. Es wird nie mehr so wie es war, aber es wird anders werden als es heute ist. Sternenkinder verändern uns und hinterlassen so ihre Spuren auf der irdischen Welt. Alles Liebe und viel Kraft!

Bernadette K.
2. November 2021 um 22:58

Wissend, dass der Schmerz, die Trauer und die Tränen um unsere Sternenkinder immer ein Teil von uns sein werden, wünsche ich euch, dass euch die unendliche Liebe zu eurem Jonas Fabian stets umhüllt, leitet und Kraft schenkt. Euer Weg wird von einem wundervollen Stern erhellt.

Meine aufrichtige Anteilnahme

Wolfgang
2. November 2021 um 23:47

Demut und Respekt vor dem Tod sprechen aus diesem Text und machen menschliches Wesen spürbar. Die Achtsamkeit und das gemeinsame Tragen der Entscheidung und das Teilhabenlassen, sind Ausdruck eines tiefen Vertrauens gegenüber dem Leben.
Daran Anteil nehmen zu können erfüllt mich mit Dank und dem unendlichen Gefühl von Liebe.

Mama Christine
3. November 2021 um 11:24

Vielen DANK für eure Reaktionen auf meinen Text… es war für mich ein wichtiger Verarbeitungsschritt und es tat unglaublich gut meine Gefühle zu sortieren und in Sprache zu übersetzen.
Anita, du schreibst: “ Es wird nie mehr so wie es war, aber es wird anders werden, als es heute ist“ . So sehe ich es auch. Ich nehme mir jeden Tag ein Beispiel an der Natur; an dieser Urkraft, die uns alle durchdringt. Unsere Kinder bleiben mit uns in Kontakt – in neuer „Form“ und verbindet Menschen, die sich gar nicht kennen. So wie ich euch nicht kenne. Doch stehen wir jetzt in Kontakt. Mit dem Herzen <3

Verena Längle
3. November 2021 um 18:39

Was für eine beeindruckende, starke Familie! Gut gewählt, Jonas! Und gute Reise!

Mein herzliches Beileid der Familie!

Christine Nachbauer
4. November 2021 um 00:46

Jonas Fabian. Dein Leben hatte soviel Liebe. Deine Mama, dein Papa und dein Bruder waren in ihrer Liebe so präsent in jeder deiner Lebenssekunde, so dass du auf den Flügeln ihres Herzschlages leicht, ganz federleicht hinauffliegen konntest. Jonas Fabian.

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