Verdreckt, aber Gummihandschuhe bitte
von Vera Juriatti
Manchmal machen wir kleine Schritte nach vorne. Diese geben mir Halt, Hoffnung und große Kraft. Und dann wieder geht es plötzlich einen großen Schritt rückwärts, so, als begäben wir uns an den Startpunkt zurück. Solche Tage rauben mir alle geschöpfte Kraft.
Von Gestern auf Heute habe ich sehr schlecht geschlafen und bin traurig aufgewacht. Beschäftigt hat mich das Gespräch mit einer unserer Kolleginnen, einer Sternenkindfotografin, die sich beunruhigt an meinen Mann gewandt hat. Sie hat seit längerer Zeit keinen Einsatz mehr gemacht und war höchst irritiert über den Umgang mit ihr als Fotografin wie auch mit dem in der 40. Schwangerschaftswoche verstorbenen Kind. Sie fragte, was im entsprechenden Krankenhaus in der Zwischenzeit passiert sei.
Die Hebamme habe ihr und den Eltern das Baby auf der Station ins Zimmer gebracht. Die Kollegin habe sich dann gewundert, warum die Hebamme im Zimmer geblieben sei. Sie habe sich sehr unwohl gefühlt, da sie sich beobachtet und mehr noch – beaufsichtigt gefühlt habe. So achtete die Hebamme akribisch darauf, dass dem – oftmals im ersten Schock geäußerten – Wunsch der Mutter, nicht mit auf den Fotos zu sein, entsprochen wird. So sei sie hinter ihr gestanden und habe sie kontrolliert, um während der Fotografie immer wieder zu bestätigen, „nein, Sie sind eh nicht drauf“.
Wir kennen das gut: Es ist oft so, dass die Eltern nur das Kind fotografiert haben möchten, aber bis jetzt haben wir durch sanftes Hinführen immer noch ein für später sehr heilsames und wichtiges Familienfoto machen dürfen, was uns in Dankschreiben dann als Glücksmoment geschildert wird. Die erste Entscheidung der Mama oder der Eltern ist nie in Stein gemeißelt, es müssen immer alle Möglichkeiten offen gehalten werden (ich kenne das aus eigener Erfahrung sehr gut!). Es macht auch keinen Sinn, uns Fotografierende zu nötigen (was die Hebamme getan hat), Gummihandschuhe zu tragen, sofern keine medizinische Notwendigkeit gegeben ist. Wir sind für das Kind nicht ansteckend und das Kind wird uns auch nicht anstecken – und natürlich desinfizieren wir unsere Hände vor dem Gehen. Nicht zuletzt, schilderte die Kollegin, habe die Hebamme sogar die Fotoausrüstung noch mit Alkohol geputzt (würden Fotografierende niemals machen!).
An all diesem für die Eltern als stille Beobachter grässlichen, überzogenen Verhalten ist abzulesen, dass sich eine Hebamme weit über ihren Kompetenzbereich hinaus in komplett falsch verstandenem „Patientenschutz“ engagiert sah. Der Effekt: Sie gab unserer Kollegin das Gefühl, die Eltern vor ihr beschützen zu müssen und den Eltern das Gefühl, beschützt werden zu müssen. Das ist eine jahrzehntelang prägende Katastrophe.
Am Rande sei bemerkt: Auch mein Mann hat wenige Tage zuvor die selbe Erfahrung im selben Krankenhaus gemacht: Die Atmosphäre war auch sehr angespannt gewesen, wodurch es ihm weder gelang, einen „Draht“ zu den trauernden Eltern aufzubauen, noch, die besten Bilder des verstorbenen Kindes zu machen.
Dem nicht genug sah es die Hebamme sehr ungern, dass unsere Kollegin das streng eingewickelte Kind aus der Windel schälte und dadurch das wahre Ausmaß des Desasters erkennen konnte: Das Kind war vollkommen ungewaschen und herzlos ungepflegt. Mein Mann und ich haben Bilder davon gesehen: Das Kind war in einem nicht fotografierbaren Zustand. Wenn es gebadet und gepflegt worden wäre, so wäre es ganz einfach und ohne großen Aufwand sauber wie jedes andere Neugeborene gewesen. (Werden diese mit Handschuhen angefasst? Sicher nicht.)
Die Kollegin schilderte, dass die Eltern sofort begannen, die Füßchen und Hände des Kindes zu streicheln und zu „erforschen“. Wir alle wissen: Sternenkindeltern brauchen viel Zeit, nähern sich ihrem Kind mit ganzem Herzen. Sie brauchen keinen „Schutz“: Wir haben das schlimmste Leid, das uns widerfahren kann – den Tod unseres Kindes – gerade erlebt. Wovor will die Hebamme uns in ihrer Eitelkeit beschützen? Vor der Anerkenntnis der Schönheit unseres Kindes?
Ich frage mich: Welches Herz schlägt in so einer Hebamme? Würde sie sich selbst solche Erinnerungsbilder an ihr verstorbenes Baby zumuten? Würde sie ihr Kind nur mit Gummihandschuhen anfassen? Glaubt sie, durch ihr Verhalten „das Beste“ für die Eltern getan zu haben? Wie – frage ich mich – schläft diese Hebamme?
Heute haben wir darüber mit einer Psychotherapeutin gesprochen und diese meinte: „Die Mutter wird in wenigen Wochen schon in einer Therapiepraxis landen. Sie wird in den nächsten Tagen bereits zu begreifen beginnen, was mit ihr aus falsch verstandenem Berufsethos ‚gemacht‘ wurde.“
So lange uns die Hebammen in diesem Krankenhaus als Störfaktoren empfinden, so lange werde ich keine Ruhe geben. Ich hoffe sehr, dass nach unserem erneuten Gespräch mit der Leitung, um dessen Termin ich mich gerade bemühe, keine solchen erniedrigenden, herzlosen Geschichten mehr zu erzählen sind.
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