17. Juni 2023 - Keine Kommentare!

… und ich höre auf zu weinen

... UND ICH HÖRE AUF ZU WEINEN
von Rainer Juriatti

Zwei Momente lassen mich unumwunden geistig abschweifen und krampfhaft an andere Dinge denken, als an das, was gerade stattfindet: Kitschige Sternenkindlieder sowie die Aufforderung „Lasset uns beten“. Allzugerne nämlich wird das Faktum, ein verstorbenes Kind in den Armen halten zu müssen, verkitscht oder mit Floskeln einbalsamiert. „Lasset uns beten“ hieß es dann natürlich auch bei der Einweihung der Gedenkstätte für Sternenkinder in Baden bei Wien. Und ein Lied wurde auch gespielt.

Unter der beeindruckend leichten und sinnigen Skulptur des Künstlerduos Schartmüller-Reszner* stehen zwei Geistliche, daneben ein emotional berührter Bürgermeister, wiederum daneben Andrea Hohl, Leiterin der HOSPIZ Baden. Der katholische Kaplan ergreift das Mikrofon: „Lasset uns beten“. Ich lächle. Wohltuend gewohnt schweife ich ab und darf mich sogar körperlich bewegen, denn glücklicherweise bin ich auch hier, um ein paar Bilder zu machen. 

Neben der neuen, mit weißem Kies ausgelegten, luftig leichten, erfrischend hellen Gedenkstätte für Sternenkinder ragen – erfahre ich – achttausend Grabsteine aus der Erde. Der Friedhof ist alt, keine gerade Linie ist unter den Bäumen zu finden. Ein filmreifer Ort der Ewigkeit. Längst schon habe ich das Beten verlernt, begnüge mich damit, zu wissen, dass wir alle einmal unter einem dieser schweren Steine landen werden. Der Tod macht mich nicht traurig. Vielmehr sind es die Menschen, die es tun: Mit ihrer Ignoranz, ihrem unermesslichen Neid, ihrer Missgunst, mit ihren vielen Befindlichkeiten, die uns scheibchenweise töten, längst bevor wir tot sind.

Unsere Sternenkinder bleiben dabei zumeist unentdeckt und vergessen, da sie unbequem sind und die Idylle einer scheinbar spaßigen Welt konterkarieren. Wenn ich heute gefragt werde, weshalb Vera und ich uns seit dreißig Jahren beharrlich dafür einsetzen, Sternenkindern eine Stimme zu geben, antworte ich gerne: Erklär mir den Sinn eines toten Babys und ich höre auf zu weinen. So nämlich ergeht es Sternenkindeltern: Die Entbehrung jeglicher Sinnhaftigkeit findet in keinem Trostwort Linderung. Und ebenso nicht in einem verkitschten Lied, das andere davon überzeugen soll, wie schwer es die Interpretin hat. (Noch nie hat jemand einen Metal-Song voller Wut geschrieben, es erschiene mir ein herrlich wohltuender Gegenpol zu sein.)

In einer sehr gelungenen Doppelconférence moderieren der Pastor und der Kaplan den Ritus der Einweihung durch. In meinen geistigen Abschweifungen denke ich an eine Sternenkindbestattung, die ich selbst vor wenigen Tagen moderierte. Die Familie bestand aus Nichtgläubigen, traditionell Gläubigen sowie buddhistisch geprägten Menschen. Und so durfte ich einbinden, woran ich selbst glaube: Wir wissen nicht, wohin wir gehen, ob wir überhaupt irgendwohin gehen. Nur eines weiß ich mit Gewissheit: Jedes Kind findet den direkten Weg in unsere Herzen. Dort darf es bleiben, den Rest unseres verdammten Lebens.

Als die beiden Geistlichen ihre Gebete beenden, wird ein rotes Band durchschnitten. Davor hatte der Bürgermeister in einigen wenigen, sehr bewegenden Worten erläutert, er habe vor zig Jahren einmal einen Artikel gelesen, der ihn nicht mehr losgelassen habe. Mir fällt auf, wie wunderbar die auch von uns ständig forcierte Öffentlichkeitsarbeit hilft, wie lange ein Presseartikel also wirken kann. Neben dem Bürgermeister haben sich etliche lokale Firmen an der Errichtung beteiligt, dazu gemeinnützige Clubs und Banken. All diese Fäden liefen bei einer Person zusammen: bei Andrea Hohl. Seit dreizehn Jahren ist sie in der HOSPIZ Baden tätig. Der Gedenkort ist ihre letzte, große Aktion. Nächste Woche schon wird sie die Obmannschaft abgeben. So, denke ich, ist dieser neu geschaffene Ort nun auch ein „Denkmal“ für ihre langjährige, zähe Arbeit. 

Andrea ist es auch, die nun Vera und drei weitere Frauen nach vorne bittet. Sie alle erhalten einen Stern überreicht, der den Namen ihres Kindes trägt. Dazu der Tag, an dem das Kind zur Welt starb. Die Frauen legen die Sterne im Fundament der Skulptur ab, während alle anderen Anwesenden kleine Kerzen entzünden und eine Mitarbeiterin der HOSPIZ bunte Luftballons in den Himmel steigen lässt. Danach bekommt Vera eine schöne Box überreicht, in der nochmals ein Chromstahlstern mit dem Sterbedatum liegt. Dieser soll mit nach Hause genommen werden. Eine wunderschöne Geste. Paradoxer Weise lief während all dieser Handlungen ein Sternenkind-Lied, das mich sehr berührte und bewegte und ich musste daran denken, dass der Mensch gebaut ist aus einem Meer voller Widersprüche. Musik kann auch schön sein, wenn es sich nicht um provokanten Metal handelt.

Wir alle wissen nicht, wohin wir gehen. Wir wissen nur, was wir im Heute schaffen können: Andrea Hohl hat mit dem gesamten Team der HOSPIZ Baden einen wunderschönen Sternenkinder-Ort gebaut, an wir den existenziellen Fragen unseres Daseins nachsinnen dürfen.

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*Ein paar wenige Worte sollen dem Kunstwerk selbst gewidmet sein: Die Konzeptkünstlerin EVA MARIA SCHARTMÜLLER und der Bildhauer ROBERT RESZNER haben die neue Gedenkstätte in Baden bei Wien geschaffen. Das Fundament der zentralen Skulptur ist aus weißem Beton gefertigt – eine eigene Kunstfertigkeit an sich. Künftig werden in diesem Fundament/Kubus alle Chromstahlsterne mit dem Namen des jeweiligen Sternenkindes abgelegt. Schicht um Schicht wird sich das Fundament/der Kubus mit Sternen füllen. Die aufsteigenden Sterne symbolisieren die Transformation des leiblichen Lebens in den von Antoine de Saint-Exupéry im Kleinen Prinzen beschriebenen Daseinszustand des Sternenhimmels.

 

Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text

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