15. Mai 2022 - Keine Kommentare!

Erklär mir, was geschehen ist

Erklär mir, was geschehen ist
von Rainer Juriatti

Am 18. Oktober fand die Aufzeichnung zu 2 Minuten 2 Millionen statt, jener Sendung, die vor fünf Tagen ausgestrahlt wurde. In der Nacht nach der Aufzeichnung war an Schlaf nicht zu denken. Und so saß ich irgendwann am Schreibtisch und habe das Folgende notiert.

19. Oktober 2021. Es ist 4.40 Uhr. Immer noch liege ich hellwach. Der Pitch geht mir durch den Kopf, die Fragen danach, unsere Antworten. Zwei Minuten hatten wir Zeit. Zwei Minuten, die über Sein oder Nichtsein entscheiden. Gänsehaut, mich fröstelt. Bekomme ich Fieber? Diese Zeilen hier handeln nicht vom anbrechenden Morgen vor unserer Fahrt ins Wiener Puls-4-Studio. Es ist der Morgen danach. Ich liege wach und weiß nicht mehr, was wir alles geantwortet haben. Ich erinnere mich nur daran, wie ich da stand, in diesem Lichtspot, an der Seite meiner Frau, die wunderschön aussah, während sie kompetent und selbstsicher auf alle Fragen der Investor*innen einging. 

Zwei Monate davor. Wir saßen im Zug nach Innsbruck. Die Literaturzeitung „Cognac & Biskotten“ hatte mich neben neun anderen Literaturschaffenden eingeladen. Ein Text über Sternenkinder sollte mir auf die Rippen tätowiert werden, live, im Internet übertragen, währenddessen ich die volle Fassung des Textes zu rezitieren hatte. Solle eine schmerzhafte Sache werden, hieß es. Doch natürlich wollte ich es tun für unsere Sternenkindprojekte. Alles tue ich dafür. Auf der Fahrt erhielten wir eine E-Mail aus dem Bundeskanzleramt, Sektion Familie. Man werde unsere Sternenkindkarte nicht fördern. Da sagte Vera: Wir müssen zu 2 Minuten 2 Millionen gehen. Noch am selben Abend füllten wir das online-Formular aus, im Hotelzimmer in Innsbruck. Es fühlte sich richtig an.

19. Oktober 2021. Es ist 4.50 Uhr. Habe ich mich am Ende wie geplant für die Möglichkeit bedankt, in dieser Sendung über Sternenkinder sprechen zu dürfen? Was habe ich überhaupt alles gesagt? An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken an diesem Morgen danach. Zu aufgewühlt bin ich noch immer. Was haben wir nur getan? Wird es nicht peinlich werden? Kann ich mich auf der Straße noch sehen lassen? Doch zu Hause stapeln sich die Absagen, es war notwendig, ins Puls-4-Studio zu gehen. Große Firmen, die ich anschreibe, antworten, es handle sich um ein schönes Projekt, man setze jedoch auf andere Initiativen. Sternenkinder formen kein hippes Social-Image. Zu versteckt werden sie gehalten. Landesregierungsbeamte schreiben uns, man wolle das Projekt in Evidenz halten. Was bedeutet in Evidenz halten? Sterben nicht jeden Tag zehn Kinder in Österreich? Kann man die Verzweiflung der Eltern, die richtige Adresse zu finden, auf Morgen verschieben? Hilft die Vertröstung auf ein „irgendwann“? 2 Minuten 2 Millionen jedenfalls half bereits vielen Sozialprojekten. Warum also nicht auch uns?

Zwei Monate davor. Die Redaktion der Sendung antwortete überraschend schnell. Beworben am Freitag, erhielten wir am Montag darauf bereits eine E-Mail. Die Redaktionsleiterin Martina Horvath schrieb uns, sie wolle uns im Auftrag von Puls 4 einladen, uns am Videocasting zu beteiligen. „Ich kann es nicht glauben“, sagte ich. Auch Vera reagierte überrascht und freute sich. Wir machten uns sofort an die Arbeit. Man solle einen Pitch von zwei Minuten aufnehmen, schrieb Martina Horvath, mit dem Smartphone, mit der Kamera. Wie man halt könne. Ich textete. Las laut und bemerkte, wie verdammt kurz zwei Minuten sind. Natürlich wusste ich, dass „schnell reden“ gar nichts bringt. Über Sternenkinder spricht man nicht schnell. Bald schon sandten wir unser Video zu Puls 4. Dann hieß es warten. „Wir können nur gewinnen“, meinte Vera gelassen.

19. Oktober 2021. Es ist 4.55 Uhr. Sind wir verrückt? Was haben wir nur getan? Wie konnten wir uns nur einreihen unter all die Erfinder*innen, all die Jungunternehmer*innen, die durchstarten möchten! Wie konnten wir die Investor*innen nur mit verstorbenen Kindern konfrontieren! Und was werden die Menschen vor den Bildschirmen denken, wenn sie uns zuhören? „Alles gut!“, pocht es in mir: Wir wollten dieses Risiko eingehen, jetzt müssen wir da durch. Eine Producerin meinte, man werde vor Ausstrahlung vielleicht einen Warnhinweis einblenden. Also abwarten, warm anziehen, auf den Shitstorm einstellen. 19. Oktober. 4.58 Uhr. Ich stehe auf, es macht keinen Sinn, noch länger liegen zu bleiben.

Ein Monat davor. Das Irrationale, das Unfassbare, das Unglaubliche begann am 8. September. Wir erhielten einen Anruf von Martina Horvath. Sandra, unsere Schwiegertochter, fotografierte den Moment: Wir saßen in der Küche und bekamen den Mund nicht zu. Martina Horvath teilte uns mit, dass wir dabei seien. Dass man uns einlade, an der Sendung 2 Minuten 2 Millionen teilzunehmen. Alles Weitere folge per E-Mail. Zwei Wochen darauf begannen die Pitch-Coachings, in denen wir mit einem Fachmann an den Zeilen feilten, um die kurzen zwei Minuten optimal auszufüllen und das Wesentliche aus unseren komplexen Vorhaben zu sagen, ohne verwirrend zu wirken. Der Aufzeichnungstag wurde mit 18. Oktober festgelegt. 

19. Oktober 2021. Es ist 5.02 Uhr. Ja, Philipp Maderthaner war mein favorisierter Investor gewesen, ich gebe es zu. Auch Hans Peter Haselsteiner natürlich kam sehr infrage. Immerhin ist er für uns so etwas wie der Grandseigneur des Investments und sozialen Engagements. Katharina Schneider, die Vera und ich als Persönlichkeit sehr schätzen, kam weniger in Betracht, leider. Auch Leo Hillinger nicht. Und Felix Ohswald war ja neu in der Runde, den kannten wir nicht. Martin Rohla, wurde uns gesagt, sitze nicht mehr im Studio, sondern bekleide neben dem ProSieben-Monitor auch einen Bildschirm und der Vorarlberger Landsmann Daniel Zech kam nicht infrage, da er mit Werbezeiten dealt. 

18. Oktober 2021. Morgens um 8 Uhr fahren wir los. Ich bin angespannt, gehe die Unternehmenszahlen nochmals durch. Noch weiß ich nicht, dass ich sie gar nicht brauchen werde, keine einzige Frage wird in diese Richtung abzielen. Weil wir kein Investment sein werden, weil sich niemand an unserem Unternehmen beteiligen wird. Zunächst holen wir Carmen Klein ab, die Psychologin, die in unserem Pilotprojekt auf einer der Servicekarten angeführt ist. Sie ist eine liebe Begleiterin im Projekt geworden. An diesem Tag werde ich sie noch mehr zu schätzen lernen. Schön, so einen Menschen an unserer Seite zu haben. Kurz darauf steigt Kerstin Klingsbichl ins Auto. Auch ihre Adresse hat einen festen Platz in der Sternenkindbox, kreierte sie doch die Kräutermischung für das Duft- und Massageöl, mit dem man Sternenkindern einen ersten und letzten Pflegedienst leisten kann.

Auf dem Weg nach Wien gehen wir die Dekorationsteile nochmals durch. Mit Kerstin haben wir die Skizzen und Fotos vor einigen Tagen bereits besprochen. Sie ist unsere „Kulissenbeauftragte“ an diesem Tag. Carmen erzählt von vielen positiven Rückmeldungen über die Box. Vera und sie erörtern sehr lange auch die die bedauerlichen, unzähligen Mankos, die wir manchen Kliniken auch hinnehmen müssen. Leider wird die Box durch persönliche Befindlichkeiten immer noch nicht an alle Frauen ausgegeben. Immer wieder berichten uns Frauen davon, dass ihnen die Box nicht angeboten wurde und sie dachten, sie sei nicht mehr verfügbar. Während wir über all diese Mankos sprechen, wird mir erneut bewusst, dass es richtig ist, ins Fernsehen zu gehen und uns zu entblößen, blank zu legen, zu exponieren und das Risiko einzugehen, für die Bilder der toten Kinder einen Shitstorm einzustecken: Die vielen Elternpaare, die noch nicht wissen, dass sie eines Tages Sternenkindeltern sein werden, müssen von der Box wissen. „Es ist traurig“, sagt Carmen, „dass es so weit kommen muss, dass künftige Patientinnen von der Box wissen müssen“. Wir wissen: Es wäre eine Sache des Anstands jeder Klinik, die Box ohne Aufforderung auszugeben.

Als wir beim Studio ankommen, bemerke ich die große Faszination, die der Betrieb bei Carmen und Kerstin auslöst. Ich freue mich. Adrenalin gehört dazu. Wir durchlaufen die Corona- und Vertragsschleuse. Dann gehen wir auf einen Kaffee. Noch ist lange Zeit. Drei Stunden darauf betreten wir das Foyer und werden in die Maske geschickt. Und wieder heißt es warten. Zwei Stunden darauf beginnen die Dreharbeiten in der Schleuse mit der berühmten Stahltür am Ende des Flurs. Im Pitchstudio bauen wir die Kulisse auf, Dutzende Hände greifen ineinander. Dann werden Vera und ich ein letztes Mal geschminkt. 

Dann endlich, nach zwei Monaten der Fokussierung auf diesen Tag, stehen wir vor der Stahltür. Vera flüstert mir zu, jetzt poche ihr Herz. In diesem Moment öffnet sich die Tür. Unsere zwei Minuten beginnen.

Zwei Minuten sind verdammt kurz. Man schafft es grad mal, das Komplexe in wenigen Schlagzeilen zu vermitteln. Meine Erinnerungen verschwimmen hier. Zu Irreal ist es, plötzlich Teil dieser Sendung zu sein. Ich weiß nur noch, dass wir unseren Text fehlerlos rezitierten, dann dastanden und aufgeweckte, betroffene, sprachlose Investor*innen vor uns hatten. Zunächst sagte niemand etwas. Ich weiß nicht mehr, wer den ersten Satz aussprach, ich glaube, es ist Hans Peter Haselsteiner gewesen, der nach der Definition des Wortes „Sternenkind“ fragte. Überhaupt stellte er sehr interessierte Fragen. Leo Hillinger blätterte in Veras Bilderbuch und stellte zwei fassungslos wirkende Verständnisfragen. Katharina Schneiders Gesicht konnte ich nicht einordnen, auch Felix Ohswalds Mimik nicht. Philipp Maderthaner meinte, er wolle keine Firmenanteile, er wolle kein Geld, er wolle uns helfen. 

Der Rest ist Geschichte, zu sehen in der Sendung. Wir waren und sind kein Investment. Dennoch wurden unsere kühnsten Träume wahr und überboten. Wir waren „geplättet“, sind es bis heute. In der Sendung ist zu sehen, dass ich mich namens der tausenden und abertausenden Sternenkindeltern bedankte, am Ende, unter Tränen. Na, wenigstens ist diese Unsicherheit ausgeräumt. Ich habe mich bedankt, wenn auch mit stockender Stimme. Für die einen ist das Entertainment. Für Vera und mich ist es die Welt.

Hier geht's zur Drehscheibe der Hilfe für Sternenkindeltern und -angehörige:
Mein-Sternenkind.net
Hier geht's zur Sternenkind-Bücherbox.
Hier geht's zum Buch Zwei Minuten nur.

Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in Text

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