20. Januar 2022 - 2 Kommentare

Als wir lange noch keine Masken trugen

Als wir lange noch keine Masken trugen
von Rainer Juriatti

Die Erinnerung ist stark und durchbricht seit einigen Wochen immer wieder meinen Alltag: Gemeinsam mit meinen Brüdern sitze ich im Schlammsand, kleine Wellen umspülen unsere Knie. Wir greifen in den Meeresstrand und lassen den Matsch durch die geschlossene Faust tröpfeln. So entstehen kleine Bäume.
Inzwischen sind wir alle mutiert. Wir, die Monster. Wir, die dunklen Gestalten.

Einen ganzen Wald haben wir gebaut in dieser Schlammsandtechnik. Zwischen den Bäumen stellten wir Plastikfiguren auf, die wir für ein paar Lire aus Automaten an der Strandpromenade gedrückt hatten. Gleich neben unserem Sandwald befand sich eine Strandbude mit Spielautomaten, in die wir unser gesamtes Taschengeld verbrachten, um 100-Lire-Stücke in die exotisch anmutenden Automaten zu stecken und uns in Computergrafiken zu vertiefen, für die uns heute ein Dreijähriger auslachen würde. Hätte jemandem mir, dem kleinen Jungen am Strand von Lignano, gesagt, in fünfzig Jahre würde ich mit einer Maske vor dem Mund herumrennen und mich täglich mit Nachrichten zubomben lassen, die eindringlich davor warnen, ich könnte mich an einem Virus infizieren, von dem manche sagen, er sei einem verrückten Wissenschaftler entkommen, um die Menschheit auszulöschen, so hätte ich gesagt: Du spinnst.

Meine Kindheitserinnerungen werden getragen von erfundenen, abenteuerdurchfluteten Tagen, manchmal von real salziger Luft, immer einer Handvoll Erdnüsse und einmal dem Stolz auf ein neues T-Shirt mit dem Aufdruck einer englischen Fahne. Alles war Freude. Auch Jahre später, da freute ich mich mit anderen Aktivisten auf die pünktliche Ankunft eines Busses, der uns nach Stuttgart karrte, damit wir dort gegen Tierversuche auf die Straße gingen. Die Kosmetikindustrie solle damit aufhören, forderten wir, an niedlichen Kaninchen in Augentropfentests die Wirkung ihrer Hautverjüngungssälbchen zu testen. Hätte mir jemand gesagt, die Tierquälerei werde quantitative wie auch qualitative Dimensionen erreichen, die wir uns nicht auszumalen wagen, hätte ich gesagt: Du spinnst. 

Und wiederum ein paar Jahre später freute ich mich gemeinsam mit vielen anderen über den Erfolg unserer Demonstrationen in den Vorarlberger Straßen und Jugendzentren, als das Zwentendorfer Atomkraftwerk nicht gebaut werden durfte. Auch über den Zuspruch der Passanten während eines Sit-ins gegen die Abholzung des Regenwaldes, mitten in der Fußgängerzone unserer Kleinstadt, freuten wir uns und glaubten an die weltweit agierenden Botschafter der UNO. Hätte mir jemand gesagt, man werde bald schon die Atomindustrie als grünen Strom anpreisen, während in Südamerika täglich nicht Dutzende, sondern tausenden Fußballfelder abgeflammt werden, so hätte ich gesagt: Du spinnst. Ebenso Geschichte sind auch die Menschen in jener Stadt, in der wir heute leben: In den Grazer Bims plauderten die Menschen miteinander und fragten nach dem Befinden. Hätte mir vor zwanzig Jahren jemand gesagt, in einer Grazer Tram herrschten schweigende wie auch aggressive Maskengesichter vor, so hätte ich gesagt: Du spinnst.

Wir glaubten an die Veränderung. Bald schon werde es keine Tierversuche mehr geben, da die Menschen vernünftig werden würden. Es werde die Atomindustrie in Europa und dann der ganzen Welt zur Vernunft kommen, da die Endlagerung tausende Jahre der Verseuchung bedeute. Auch werde es bald keine Kriege mehr geben, unsere Peace-Abzeichen auf den Parkas würden dafür sorgen. Ja, sogar der Regenwald werde sich bald schon erholen, da der Mensch ja keinesfalls so dumm sein könne, sich die Lunge aus dem Leib zu reißen. Wir glaubten. Wir glaubten an den globalen Reifungsprozess des Menschen. Wir glaubten an die Möglichkeit der Veränderung jedes Einzelnen. Wir glaubten an all dies, wie ich als Kind an meine Sandstrandbäume geglaubt hatte, so lange zumindest, bis die Flut kam und sie mit einem Schlag wegspülte.

Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in Text

Kommentare

Astrid Bechter-Boss
20. Januar 2022 um 11:51

Du spinnst – diesen Gedanken hätte ich sogar noch vor zwei Jahren gehabt, wenn mir jemand gesagt hätte, dass wir mit Masken herumlaufen – hier in Österreich und nicht in Japan oder …
Ich bin gespannt, zu was wir in weiteren 2, 5, 10 oder 20 Jahren sagen werden, dazu hätte ich damals gesagt „Du spinnst!“

Rainer
20. Januar 2022 um 12:20

… da wäre ich gegebenenfalls auch irgendwie neugierig darauf. Ich schreibe im Konjunktiv, da ich davon ausgehe, dass wir uns das aber nicht fragen werden können, weil wir uns in wenigen Jahren bereits ausgerottet haben, zumindest arbeiten wir akribisch und voller Kraft daran.

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