23. Juni 2022 - Keine Kommentare!

Die tägliche Aufregung

Die tägliche Aufregung
von Rainer Juriatti

Wir leben in einer Zeit, in der wir Otto-Normalverbraucher uns bei entsprechender Konditionierung ständig über irgendetwas aufregen können. Das Fernsehen liefert uns den Stoff dazu: Reportagen, Dokumentationen, Nachrichtensendungen. Es gibt viele Dinge, die aufregen können. Mich jedenfalls lassen sie oft blöderweise nicht in Ruhe.

Am Abend des 23. Juni war es erneut das Team von Günter Wallraff, das uns einen solchen Aufreger frei Haus lieferte (in Wiederholung einer Sendung vom 10. Februar 2022): 

In einigen Alloheimen (so nennt sich eine Pflegeheimkette in Deutschland mit mehr als 240 Häusern) werden Menschen gedemütigt, beschimpft, in ihrem Urin oder Kot liegen gelassen, nicht therapiert, unterernährt. Und dies alles, um eine Investorengruppe mit jährlich fetten Gewinnen zu speisen.

Natürlich kam ich nicht umhin, der Alloheim-Direktion - wie wahrscheinlich tausende andere auch, der Server war lange nicht erreichbar - zu schreiben. Hier meine Zeilen an die lieben Menschen dort:

Liebes Alloheim-Team!

Ich bin Schriftsteller und lebe in Graz/Österreich. Wie Sie sich anhand des Zeitpunktes meiner Zuschrift denken können, verfolge ich gerade den Bericht über Ihre Heime auf RTL. Die Geschichte der Stoma-Patientin, Frau Müller, erschüttert mich zutiefst, so, wie mich alle armen Menschen, um die Sie sich eigentlich in möglichst bester Form kümmern müssten, erbarmen. Ich frage mich, wie Sie zu Ihren Rechtfertigungen kommen, die von "Unterstellungen" sprechen, wo es doch Videobeweise dafür gibt (Anm: die man den Leuten dort vor Ausstrahlung der Sendung überlassen hat).

Besteht die Pflege in Deutschland darin, Mängel schönzureden, anstelle der ethischen Verpflichtung, Menschen in bester Weise und unter Aufwendung jedes einzelnen Cents, den sie dafür zahlen, zu helfen? Besteht Ihr Konzept darin, Gewinne zu maximieren auf dem Rücken verletzender Handlungen Ihrer "Menschenwächter", die sich Pflegende nennen? Wenn Sie selbst den Bericht betrachten, spüren Sie dann nicht auch die Aggression, die sich in Ihnen regt und sich gegen Ihre Unmenschen in Pflegekleidung wendet? Ist das ein gutes Gefühl? Könnten Sie sich entscheiden, würden Sie dieses Gefühl nicht wandeln wollen in eines der Liebe und Menschenachtung? Denken Sie manchmal über solche Fragen nach oder endet Ihr Horizont am Kontostand Ihres Unternehmens?

Ich bin erschüttert und wünsche jedem Einzelnen von Ihnen, niemals die Pflege Ihrer eigenen Einrichtungen brauchen zu müssen.

Es wäre schön, wenn Sie sich ein bisschen dafür schämen, was heute Abend auf RTL über Sie zu sehen ist.

Gruß aus Österreich.

So weit meine Gedanken zu dieser grässlichen Reportage. Sie regt mich auf. Darum schreibe ich hier. Und wie oft schon werden Menschen nun mich rhetorisch fragen, ob ich der Wächter der Menschheit sei. Das bin ich natürlich nicht. Aber was ist, wenn es uns nicht mehr aufregt? Wenn keiner von uns Briefe an Konzerne schreibt? Wenn auch niemand mehr auf die Straße geht? Oder eine Baustelle in Wien blockiert, wie es jüngst junge Menschen gemacht haben, um einen Straßenbau (erfolglos) zu verhindern? Was geschieht, wenn wir den Mut verlieren, jemandem zu sagen, er sei ein Idiot? Also schreibe ich: Es ist das einzige, das mir angesichts der gequälten alten Menschen in meiner Machtlosigkeit bleibt.

Naja, aber natürlich brachten die tausenden Briefe seit 10. Februar an die Heimleitung der Alloheime natürlich nichts: Hier die Polemik der Direktion, in der selbstverständlich alles „auf das Schärfste“ zurückgewiesen wird.

Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in Text

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