29. Juli 2022 - Keine Kommentare!

Dreadlocks, Scheitel und Tiara

Dreadlocks, Scheitel und Tiara
von Rainer Juriatti

„Kulturelle Aneignung“ nannten es entrüstete Konzertbesucher und echauffierten sich über weiße Reggaemusiker, die Dreadlocks trugen. Das Konzert wurde umgehend beendet. Ich frage mich ja, warum die Konzertbesucher überhaupt zu einem Reggaeabend gegangen sind, in der Schweiz (!), wo bitteschön nur auf dem Alphorn geblasen werden darf.

Dass manche Leute „aus dem Publikum“ sich zunehmend dadurch auszeichnen, selber nichts auf dem Kasten zu haben, aber den Mund bei geringster Möglichkeit weit aufzureißen, ist ein wunderbares äußeres Zeichen unserer total der Verrücktheit verfallenen Zeit geworden. „Aus dem Publikum“ finden wir ja täglich auch im Internet, im Supermarkt, an der Bushaltestelle, in den Leserbriefspalten altehrwürdiger Printmedien. Überall spricht „die Stimme des Volkes“ und sagt dem Rest der Welt, was ethisch und moralisch vonstatten zu gehen hat.

An der eigenen Haut erlebten das meine Frau und ich jüngst erneut, als wir von einer Trauerbegleiterin die Bitte erhielten, Sie aus einem Verzeichnis, mit dem wir arbeiten, zu streichen und ihr keine Infos mehr zuzusenden. Sie kritisiere, dass wir für Eltern verstorbener Kinder zu viel Werbung machen würden. Zeitgleich erhielten wir aus dem selben (sehr katholischen) Bundesland hundert Flyer zurückgesandt, die wir einer Uniklinik für den Wartebereich zur Verfügung stellen wollten, um auf die Gratis-Hilfsseite Mein-Sternenkind aufmerksam zu machen. Der dortige Krankenhausseelsorger hatte die Informationen vehement abgelehnt, er dulde im Bereich der Gynäkologie abseits der eigenen Faltblätter keine Fremdprospekte. Wahrscheinlich findet er, konfessionsfreie Sternenkindhilfe sei „kulturelle Aneignung“.

Ich plädiere somit dafür, man möge sämtliche rechtspopulistischen Parteien in Europa sofort gesetzlich verhindern, da deren verstaubte Verschwörungspolitik kulturelle Nazizeitaneignung darstellt; ich plädiere dafür, dass alle Tätowierungen auf europäisch weißer Winterhaut sofort wegzulasern sind, sofern man also nicht Inka oder Maori oder sonstiger Dschungelbewohner ist, gehört das Zeugs nicht da hin; ich plädiere für das generelle Verbot von Rockmusik und die Wiedereinführung der seeligen Heimatschlager eines Peter Alexander; ich plädiere für das pauschale Auslösen einer Reset-Taste, die jegliche Globalisierung unterbindet: Zurück in die Zeit vor den Zeitungen und überhaupt aller Medien, in denen keiner wusste, was 100 Kilometer entfernt gelebt wurde. Nur damit unterbinden wir konsequent jegliche Imitation und „kulturelle Aneignung“. Und streicht endlich den Fremdsprachenunterricht zugunsten von mindestens acht zusätzlichen Religionstunden!

Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text

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