10. Dezember 2022 - Keine Kommentare!

eye-to-eye

EYE TO EYE
von Rainer Juriatti

Während wir fahren, Stille. Vera strickt. Ich lese. In einem blätterbaren Buch.

Gleich links am anderen Tisch des Großraumwaggons ein Smartphone. Es gehört einem russischen Maskenverweigerer. Geschätzte Mitte Sechzig. Die DB-Zugbegleiterin macht ihn mehrmals aufmerksam, er müsse aussteigen, sofern er die Maske nicht aufsetze. Er setzt sie auf. Dann gleich wieder ab. Starrt in sein Smartphone. Eine Station weiter. Eine junge Frau steigt ein. Platziert sich dem Russen gegenüber. Gegenüber mir selbst sitzt eine Frau. So alt wie ich schätzungsweise. Schwer zu sagen unter der Maske.

Die junge Frau tippt in ihr Smartphone. Der Russe tippt in sein Smartphone. Die Frau mir gegenüber tippt in ihr Smartphone. Ich nicht. Seit ich fotografiere, tippe ich weniger. Viel weniger. Ich lege das Smartphone mehr und mehr zur Seite. Ich will keines meiner Motive sein. Eine gute Stunde vergeht. Verwarnungen. Maske auf, Maske ab. Tippen und schauen.

Dann geht der Akku aus. Der lebensspendende Strombringer der jungen Frau. Sie hat so ein Energy-Pack dabei, das garantiert, dass man mindestens fünf Tage mit Saft für sein Smartphone versorgt wird. Dass man überlebt sozusagen. Eine Art Herzschrittmacher. Und ausgerechnet jetzt geht der Akku aus. Wo das Gerät doch ganz neu ist. Das wissen wir, weil sie uns alle nach einem Kabel fragt. Eines mit einem bestimmten Stecker. Ich krame in meinem Rucksack. Während sie den Kauf des Energy-Packs detailliert erläutert. Inklusive der Versprechungen des Ladens. Auf Fotosafaries und damit auf der Jagd nach Smartphonebeute habe ich immer allerlei Kabel dabei. Das passende heute allerdings nicht. Apple erfindet alle paar Monate neue Anschlüsse. Damit wir fleißig kaufen. Consume Cable, consume Metaproducts, consume life.

Eine Bankreihe weiter schaltet sich eine junge Frau ein. Sie bietet ihr Kabel an. Die Frau gegenüber des Russen ist glücklich. Steckt an. Schaut und tippt. Der Russe schaut und tippt. Die Frau mir gegenüber schaut und tippt. Alles wie vorher. Frieden im Abteil. Ich ziehe mein Smartphone aus der Hosentasche und öffne ein Album mit Smartphonebeute. Menschen, die schauen. Lehne mich quer über den Gang und spreche die junge Frau an.

„Schauen Sie bitte“, sage ich, „hab ich grad gepostet“.

Sie blättert. Nickt. Lächelt unter ihrer Maske, man kann es an den Augen erkennen.

„Die Stille wurde nur unterbrochen“, sage ich, „weil Sie ein Kabel gesucht haben.“
„Stimmt“, lacht sie, „eigentlich schrecklich“.
„Furchtbar“, sagt die Ärztin mir gegenüber. „Wir sind Realitätsverweigerer geworden.“

Dass die Frau Anästhesistin ist, wissen wir aus dem zweistündigen Gespräch, das dem Betrachten des Albums folgte. Die junge Frau ist Tänzerin. Was der Russe macht, das wissen wir nicht. Er tippte maskenlos weiter.

Hier geht's zu The Universe of Isolation Stills
Hier geht's zu The Universe of Isolation Clips

Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text

Eine Antwort verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.