26. April 2021 - Keine Kommentare!

Vom Leid der Väter


Vom Leid der Väter
Rainer Juriatti

26. April 2021. Taggenau vor drei Jahren erschien „Die Abwesenheit des Glücks“. Jetzt gleich werde ich Pablos Bild vom Schrank holen. So, wie ich es an seinem Sterbetag immer mache. So, wie es in der Erzählung beschrieben ist.

Vor wenigen Tagen erhielten wir eine Zuschrift einer Frau: „Seit einigen Wochen lese ich immer wieder in „Die Abwesenheit des Glücks“. Das Buch ist mir völlig unerwartet zugefallen. Worte, die seit fast 25 Jahren in mir unausgesprochen, unformulierbar warteten, finde ich dort. Voller Dankbarkeit, (Name).“

Mich berühren solche Zuschriften sehr, sie zeigen Vera und mir in all unserem organisatorischen und publizistischen Wahnsinn, worauf es am Ende ankommt: Einander zu berühren – tröstend, verständnisvoll, offenherzig.

Da ich im Moment an einem Buch arbeite, blättere ich wie gewohnt in meinen alten Literaturnotizbüchern, da meine Erzählungen über Jahrzehnte hinweg entstehen und in vielen Notizen darauf warten, fertiggestellt zu werden. Und so entdeckte ich eine Notiz aus dem Jahr 2002, es geht speziell um uns Sternenkindväter:

„Ich war stolz auf jedes unserer Kinder. Meine Freude war ebenso groß, wie die meiner Frau. Das Glücksgefühl und später dann all die Ängste waren die selben. Gefühle kennen kein „männlich“ oder „weiblich“. Nur: Ich habe keines der Kinder in meinem Bauch getragen, habe keines der Kinder körperlich spüren dürfen. Pablo warf noch nich einmal kleine Wellen, wie ein Fischschlag unter der Wölbung des Bauches. Ich erachte ihn dennoch wie jedes Sternenkind als das große Glück des Lebens. Viele Menschen meinen, wir Männer litten weniger schwer am Verlust eines ungeborenen Kindes. Vielleicht aber sind wir auf eigene Weise zu Schlimmem verurteilt: Verurteilt nämlich zum „draußen bleiben“. Wir haben nicht die biologische Chance, eine körperliche Verbindung zu unserem Kind aufzubauen. Wir sind nicht mit einbezogen in die auch hormonell starke Gefühlswelt zwischen Mutter und Kind. Wir sind die, die sich nur von außen an das neue Leben herantasten: Indem wir unsere Hand auf den Bauch legen, für die werdende Mutter da sind, in allen Situationen beistehen. Mitlachen, mitzittern, mitweinen.

Wir dürfen keine Angst haben vor dem Unverständnis der Außenwelt, wenn wir trauern, wenn wir Wut zeigen, wenn wir verzweifelt sind. Wir dürfen es uns leisten, unsere Gefühle zu äußern. Die Gesellschaft hat Probleme damit, einer Frau zu begegnen, die ein Kind verloren hat. Nahezu ausschließlich wurde ich in den Jahren, in denen wir fünf Kinder verloren und zwei gesunde bekamen, von anderen gefragt: „Wie geht es deiner Frau?“ Ich habe oft geantwortet: „Es geht ihr wie mir.“ Solche Sätze stießen immer auf Unverständnis. Und damit wird es paradox: So sehr die Menschen Probleme haben, einer Sternenkindmama zu begegnen, so sehr haben sie Probleme damit, dass wir Väter uns erdreisten, unsere Gefühlslage jener der Mutter gleichzusetzen. Die Menschen müssen lernen, auch Männern zu begegnen, die ein Kind verloren haben. Ich denke, es ist die Aufgabe von uns Vätern, Schwäche zu zeigen und diese nach außen zu tragen. Ich möchte alle Männer ermuntern: Leiden Sie.“

Hier geht's zu "Leon & Louis oder: Die Reise zu den Sternen".
Hier geht's zu "Die Abwesenheit des Glücks".

Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text

Eine Antwort verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.